Quellen: “Lauf erinnert sich” von Paul Hund
und einem telefonischen Interview August 2020 von Alfred Graf.
“Ich kann mich noch an jede Ecke im Schloss Aubach und an den Geruch von jedem Raum erinnern, wie wenn es erst gestern gewesen wäre.” So erzählt es Irmelin Huss von Neufville mit klarer, fast noch jugendlicher Stimme, obwohl sie am 21. November 2020 90 Jahre alt wird. Sie sagt: “In der langen Reihe der Aubachbesitzer war ich wohl die Einzige, die dort geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist. Bis zur vierten Klasse ging ich in Lauf in die Volksschule. Eine Klassenkameradin war Hermine Doll; manchmal telefonieren wir noch miteinander.” Hermine Doll erinnert sich: “Es war für uns Kinder immer etwas Außergewöhnliches, wenn wir von unserer Schulkameradin Irmelin in das Schloss Aubach eingeladen wurden. Besonders die Süßigkeiten, die es als Nachtisch gab, sind mir unvergesslich, weil wir so was nicht kannten.”
Irmelin Huss erzählt weiter: “Unser Klassenlehrer war Herr Adelmann, ein sehr netter und freundlicher Mann. Weniger gern erinnere ich mich an den damaligen Schuldirektor Farrenkopf. Damals benutzte man noch Schiefertafeln zum Schreiben, die man mit einem nassen Schwamm abwischte. Einmal war der Schwamm durch die Sommerhitze eingetrocknet, dafür bekam ich von Herrn Farrenkopf schmerzhafte Schläge mit einem Stock auf die Hand.
Aber im Großen und Ganzen war die Kindheit im Schloss Aubach eine glückliche Zeit, mit meinen Eltern, Geschwistern und Großvater.
Großvater holte täglich bei Wind und Wetter auf dem Postamt in Obersasbach seine Post selbst ab. Dabei mussten wir Kinder ihn stets begleiten. Auch den täglichen Börsenbericht aus der Frankfurter Zeitung musste ich jeden Tag vorlesen. Als Belohnung bekam ich dann aus einem silbernen Döschen ein Bonbon. Wir mussten aber auch tägliche Arbeiten verrichten, die Großvater streng überwachte.
Die Vorgeschichte unserer Familie begann 1047 in Arras, im damaligen Flandern. 1545 emigrierte der protestantisch gewordene Teil der Familie über Holland nach England und wurde schließlich – seit 1573 – in Frankfurt am Main ansässig. Der katholische Zweig stellte in Frankreich allein 7 Bischöfe und Erzbischöfe. Die meisten Familienmitglieder waren Kaufleute, einige waren Juristen und standen als solche besonders häufig im 18. Jahrhundert als Ratsherren im Dienst der in der Nähe von Frankfurt wohnenden Fürsten und Grafen.
Im Jahre 1909 erwarb mein Großvater, der Bankier Gustav Adolf von Neufville, wie die Familie du Fay ebenfalls Hugenotte und aus Frankfurt stammend, das Schloss Aubach. Gustav von Neufville wurde 1848 in Frankfurt geboren und verstarb 1942 in Lauf. Gemäß eines Gemeinderatsbeschlusses vom 7. Mai 1936 bekam er im Alter von 88 Jahren das “Laufer Ehrenbügerrecht“. Besonders gern erinnere ich mich an die Zeit, als wir mit Großvater und meinen Eltern mit Pferd und Wagen ausfuhren, wobei viel gelacht und gesungen wurde.
Diese Zeit endete abrupt, als mein Vater 1941 im November beim Russlandfeldzug in der Nähe von Moskau tödlich verwundet wurde. Er wurde dann noch posthum zum Generalmajor befördert.
Einige Wochen später starb auch mein Großvater mit 94 Jahren.
Nun stand ich mit meiner Mutter und meinen jüngeren Schwestern alleine da. Kurz zuvor war ich mit 11 Jahren von meinem Großvater noch zur Alleinerbin eingesetzt worden. Meine Mutter sollte bis zu meinem 25. Lebensjahr den Betrieb führen, was sie auch mit besten Kräften versuchte.
Leider vertraute sie einem schlechten Berater, der seine eigenen Interessen verfolgte, was schließlich dazu führte, dass wir später Schloss Aubach aufgeben mussten. Mit 11 Jahren war ich nun Haupterbe des größten landwirtschaftlichen Betriebs in Lauf. Einige aus der Verwandtschaft versuchten dann, weil ich noch so jung war, das Testament anzufechten. Ich musste deshalb auf dem Amtsgericht in Achern meine Befähigung unter Beweis stellen, was mir glücklicherweise gelang.
Zum Glück gab es zu dieser Zeit einige Personen auf Schloss Aubach, die mein Vertrauen hatten, so zum Beispiel Alfred Gärtner, der Melkmeister. Er brachte mir das Melken bei und auch noch andere wichtige Dinge, die auf einem landwirtschaftlichen Betrieb notwendig sind. Er hatte eine Tochter Namens Eleonore (heute Eleonore Staiger im Zimmerplatz), mit der ich mich gut verstand. Leider hörte Alfred Gärtner 1947 bei uns auf. Danach kam Otto Lang, der ein sehr guter Mensch, Vertrauter und Verwalter war. Besonders zu seiner Frau Ludmilla hatte ich ein ausgesprochen gutes Verhältnis. Zu meinem Bedauern wurde Otto Lang 1952 vom Kloster Erlenbad abgeworben.
In guter Erinnerung sind mir auch noch Alex und Hermann Zink, die sich durch ihre Hilfsbereitschaft auszeichneten. Ab dieser Zeit hatte man mit den Beratern weniger Glück, man versuchte mit Sonderkulturen Geld zu verdienen. Allerdings waren die Investitionen wesentlicher höher als die Einnahmen, sogar ein Schülerheim wurde noch eingerichtet, um die Unkosten zu decken.
Nach dem Krieg war die Zeit der großen Feste auf dem Schloss Aubach vorbei.
Im Allgemeinen lebten wir sehr bescheiden. Wer glaubt, wir hätten in Saus und Braus gelebt, der sieht sich getäuscht. Der tägliche Speiseplan war eher dürftig. Natürlich wurde bei persönlichen Festen der große Saal festlich geschmückt und die Küche verwöhnte die Gäste mit vorzüglichen Speisen. Der Kellner servierte dann mit Frack und weißen Handschuhen. Diese Feste waren selten und stellten Höhepunkte im Jahresverlauf dar.
In der Zwischenzeit musste ich in Baden-Baden eine Mädchenoberschule besuchen, die allerdings 1944 wegen des Krieges geschlossen wurde.
Zum Glück wurde dann im Erlenbad eine Heimschule für Buben als Zweigstelle der Lenderschule eingerichtet; ich wurde aufgenommen, obwohl ich das einzige Mädchen in der Klasse war. Nach dem Krieg gründeten die zurückgekehrten Franziskanerinnen eine Internatsschule für Mädchen, die ich dann mit meinen Schwestern besuchte.
In den 60er Jahren versuchte ich mehr schlecht als recht mit meiner Mutter die Geschicke von Schloss Aubach zu lenken. Leider wurden die Ausgaben immer höher als die Einnahmen, dazu kam noch, dass immer größere Reparaturkosten anfielen. Großvater hatte leider nie Geld für Sanierungen investiert und das wurde jetzt zum Problem. Deshalb beschloss ich mit meiner Mutter 1956 notgedrungen, das Schloss Aubach zu verkaufen.
Interessenten gab es genug, zum Beispiel Dr. Oetker und Ferdinand Piëch von Porsche. Allerdings hatten wir Pech mit einem schlechten Immobilien-
Makler, er steckte mit unserem Berater unter einer Decke, sie versuchten uns über den Tisch zu ziehen.
1957, am 23. Februar lernte ich durch einen Bekannten hier auf Schloss Aubach meinen zukünftigen Mann, den Schriftsteller Peter Huss kennen. Es war, wie man so sagt, Liebe auf den ersten Blick. Bereits im Juli des gleichen Jahres haben wir geheiratet und zogen dann nach Stuttgart, wo wir 43 Jahre lebten, bis wir im Jahr 2000 nach Winnenden umzogen. Mein Mann stammte aus der Familie des berühmten böhmischen Reformators Jan Huss. Er studierte nach dem Krieg in Tübingen Philosophie und Naturwissenschaften. Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Großhandelsvertreter für Rohgewebe. Seine Erfahrung in der Geschäftswelt half mir dann, das Schloss Aubach zu einem angemessenen Preis von 600 000 DM an die Gemeinde Lauf zu verkaufen. Nach Abzug der Hypotheken u. Schulden wurde der Rest dann von mir zu gleichen Teilen an meine Schwestern und meine Mutter ausbezahlt. Meine Mutter lebte danach noch 14 Jahre bei uns im Haus, bis sie in ein Wohnstift umzog.
1958 wurde unser erster Sohn Georg Peter geboren, er ist Neurologe und arbeitet als Oberarzt im Klinikum Stuttgart. Unser zweiter Sohn Stefan, geboren 1961, wurde Schreinermeister und Heilerzieher und leitet heute die Werkstatt für ältere behinderte Personen in einer sozialen Einrichtung.
Unsere Tochter Cornelia wurde 1964 geboren und arbeitet heute als Podologin.
Mein Mann starb 2011 im Alter von 96 Jahren, seitdem lebe ich allein, werde aber von meinen Kindern und Enkeln, die nicht allzu weit weg wohnen, gut umsorgt.”
Irmelin Huss ist sehr dankbar für die Erinnerungen und Erfahrungen, die sie vom Schloss Aubach mitgenommen hat. Sie sagt: “Vor meinen inneren Augen sehe ich immer noch die Bergweide bei Mondschein im Frühling, wenn ringsum die Obstbäume blühen, oder ich sehe mich bei einem Abendspaziergang durch die blühenden Wiesen kurz vor der Heuernte, auf dem schmalen Pfad zwischen dem weißen Kreuz und dem Aubächle.”
Nachsatz
Irmelindes Vater, Georg von Neufville, geb.1883, war besonders in militärischen Kreisen eine in Deutschland prominente Persönlichkeit. Er war bis 1933 Vorstand verschiedener militärischer Organisationen, die später von den Nationalsozialisten übernommen wurden.
Heute sieht Irmelinde Huss die Vergangenheit ihres Vaters in einem kritischen Licht. Sie sagt: “Er war wie so viele seiner Zeitgenossen ein Verführter, der andere verführte.”
Ihr Vater nahm ihr, als sie 11 Jahre alt war, das Versprechen ab, den Namen “von Neufville” weiter zu tragen. Sie sagt: weder sie noch ihre Kinder legen heute Wert darauf, diesen Namen zu tragen.